Was heißt bei Heidegger Transzendenz?
Michael Seibel • (Last Update: 17.04.2014)
Dazu würde ich gern auf zwei Passagen aus „Sein und Zeit“ hinweisen
(bitte
nicht erschrecken vor dem folgenden Heidegger-Zitat. Ich erläutere
es gleich auf der nächsten Seite.):
„Das
»Transzendenzproblem«“, heisst es da, „kann
nicht auf die Frage gebracht werden: wie kommt, ein Subjekt hinaus zu
einem Objekt, wobei die Gesamtheit der Objekte mit der Idee der Welt
identifiziert wird. Zu fragen ist: was ermöglicht es
ontologisch, daß Seiendes innerweltlich begegnen und als
begegnendes objektiviert werden kann? Der Rückgang auf die
ekstatisch-horizontal fundierte Transzendenz der Welt gibt die
Antwort.
Wenn das
»Subjekt« ontologisch als existierendes Dasein begriffen
wird, dessen Sein in der Zeitlichkeit gründet, dann muß
gesagt werden: Welt ist »subjektiv«. Diese »subjektive«
Welt aber ist dann als zeitlich-transzendente »objektiver«
als jedes mögliche »Objekt«.
Durch die
Rückführung des In-der-Welt-seins auf die
ekstatisch-horizontale Einheit der Zeitlichkeit ist die
existenzial-ontologische Möglichkeit dieser Grundverfassung des
Daseins verständlich gemacht." (SuZ, 484)
Was
soll jetzt »ekstatisch-horizontale Einheit der Zeitlichkeit«
heißen? Das ist ein paar Seiten früher so gesagt:
"Die
Zeitlichkeit zeitigt sich in jeder Ekstase ganz, das heißt in
der ekstatischen Einheit der jeweiligen vollen Zeitigung der
Zeitlichkeit gründet die Ganzheit des Struktur ganzen von
Existenz, Faktizität und Verfallen, das ist die Einheit der
Sorgestruktur.
Die Zeitigung
bedeutet kein »Nacheinander« der Ekstasen. Die Zukunft
ist nicht später als die Gewesenheit und diese nicht früher
als die Gegenwart. Zeitlichkeit zeitigt sich als
gewesende-gegenwärtigende Zukunft." (SuZ, 463)
Da
es natürlich nicht darum gehen kann, Heideggers Position jetzt
mehr oder weniger unverdaut zur Kenntnis zu nehmen, fragt sich
natürlich, was sich für uns damit anfangen lässt. Und
das kann ich ohne Gespräch schlecht vorhersehen. Wir werden
möglicherweise unterschiedliche Transzendenzbegriffe haben. Die
wären zu entwickeln und gegeneinander abzugrenzen.
Vielleicht
paraphrasiere ich einmal die Passagen mit meinen Worten. In Bezug auf
Heidegger setzt man sich leicht dem Vorwurf aus, seine Tiefe zu
verplätten, aber sei es drum.
Zu
den Stichworten: Wie kommt ein Subjekt „hinaus“ zu
einem Objekt?
Diese Frage geht
von einer bestimmten Vorstellung aus. Da sei das Subjekt, der Mensch
als eine Art Innerlichkeit; und Transzendenz eine Art Schritt hinaus
vor die Tür, das sei sein In-der-Welt-Sein als Bezug eines sich
erhaltenden, aktiven Innen auf ein mehr oder weniger anzueignendes,
einzuverleibendes Außen.
Es
so zu sehen sei, so meint Heidegger, zumindest stark verkürzt.
Das sei in einem schlechten Sinn bloß subjektiv.
Aber diese Perspektive gibt es natürlich und letztlich teilt sie
sogar jeder. Wir nehmen uns
durchaus so wahr, als jeweils einzigartiger einzelner Mensch, der
sich von sich aus wie von einem Null-Punkt handelnd auf die umgebende
Welt bezieht.
Aber
wie kommen wir auf so etwas, fragt Heidegger. Er meint, das liege an
der Zeitlichkeit des Daseins. Und er spitzt das noch zu, indem er sagt:
Diese
»subjektive« Welt aber ist dann als
zeitlich-transzendente »objektiver« als jedes mögliche
»Objekt«.“
© Monika. M. Seibel, »Häutungen«
Was heißt das jetzt, das Subjektive ist in der Zeit objektiver als
jedes Objekt?
Dazu das zweite Zitat. Die drei zeitlichen Ekstasen sind
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Warum Ekstasen und nicht
einfach Zeitdimensionen? Hätte das nicht gereicht?
Wäre
das Dasein eine Amöbe, würde es sozusagen mit seinen
Pseudopodien immer schon in die drei Zeitdimensionen heraustreten und
hineinhängen. Zeit ist nicht einfach eine leere „Form der
Anschauung“, wie noch für Kant.
An
der Metaphorik muss man überraschenderweise nicht viel ändern,
nur weil es sich um Menschen und nicht um Amöben handelt. Wir
sind zeitliche Wesen und zwar nicht zuerst gegenwärtig, dann
zukünftig und dann vergangenheitsbezogen.
„Zeitlichkeit
zeitigt sich als gewesende-gegenwärtigende Zukunft.“
Man
achte auf das für meinen Geschmack geradezu amöbenhafte
Partizip Präsens im Wort „gewesend“. Ein Partizip
Präsens sagt üblicherweise eine Tätigkeit, die soeben
geschieht als Eigenschaft eines Subjekts aus, Das spielende Kind ist
das Kind, das jetzt gerade spielt. So ist der Ausdruck „Zeitlichkeit
als gewesende-gegenwärtigende Zukunft“ auch aufgebaut. Darum ist das Subjekt des Ausdrucks die Zeitlichkeit, die mit der
Zukunft gleichgesetzt wird. Also: die Zeitlichkeit, das ist die
Zukunft. Heidegger hätte auch sagen können, die
Zeitlichkeit ist die Gegenwart oder die Vergangenheit. Aber das sagt
er nicht. Nein, die Zeitlichkeit ist die Zukunft.
Welche
Zukunft? Die gewesende Zukunft, so wie das Kind das spielende Kind
ist. Also die Zukunft, deren gegenwärtige Tätigkeit darin
besteht, die Vergangenheit und die Gegenwart aus sich hervorgehen zu
lassen.
Wenn
man jetzt noch dazu nimmt, dass das Wesen des menschlichen Daseins
darin besteht, in diesem Sinne zeitlich zu sein, dann hat man
ziemlich genau verstanden, was Heidegger unter Transzendenz
versteht.
Die
subjektive Position – und wir haben letztlich keine andere, von
woaus wir auf Objekte, auf andere Menschen, auf die Welt zugehen
könnten -, ist, indem sie gegenwärtig ist, immer schon
vorbei und immer noch unerreicht.
Wäre,
worum es geht, schlicht und einfach da, so ginge es um nichts, eben
weil es schon da wäre.
Worum
sollte es auch gehen, wenn schlichtweg nichts infrage steht? Aber es
ist immer zugleich schon vorbei und noch uneingelöst.
Das,
sagt Heidegger ist die ursprüngliche Struktur des Daseins. Als
das ist Dasein Sorge. Und von daher bezeichnet Transzendenz
für Heidegger immer ein Problem (und zum Beispiel keine
Erlösung.)
Ist
die Frage damit beantwortet? Nein, natürlich nicht. Denn von
hieraus fragt sich, ob wir mit Heideggers Position etwas anfangen
können. Das kann ich an dieser Stelle aber natürlich nicht
vorwegnehmen.
(Zumindest hinweisen möchte ich abschließend auf den einschlägig weiterführenden Aufsatz von Jacques Derrida, Ousia und gramme, in: Jacques Derrida, Randgänge der Philosophie, Wien 1999, S.57f.)
Ihr Kommentar
Falls Sie Stellung nehmen, etwas ergänzen oder korrigieren möchten, können sie das hier gerne tun. Wir freuen uns über Ihre Nachricht.